Gurdjieffs Zeitalter im Gegensatz zu dem Unseren
Die turbulenten Ereignisse des 20. Jahrhunderts haben sicherlich die Erinnerung an jedwede Überlieferung, von der George Gurdjieff gerade noch letzte Überbleibsel auffinden konnte, verblassen lassen. Die Welt hat sich in den letzten hundert Jahren so schnell verändert, wie in den tausend Jahren zuvor: Weltkriege, Revolutionen, Migrationsbewegungen in großem Ausmaß, das Entstehen und Vergehen ganzer Staaten, weitreichende Neuentdeckungen und die brutale Zerstörung antiker Kunst. In unserem Zeitalter geht es nicht mehr darum, dass Wissen jener Gruppen, auf die Gurdjieff in Zentralasien stieß, anzuzapfen, denn diese bestehen längst nicht mehr.
Nichtsdestotrotz, unser Zeitalter hat gegenüber dem Gurdjieffs einen Vorteil: die wissenschaftliche Forschung hat inzwischen viele Relikte zutage gefördert, die in Gurdjieffs Zeiten noch unbekannt waren. Die Archäologie ist zu einem sehr viel systematischerem Arbeitsfeld geworden: die Nationen tragen heute ihr Wissen zusammen und arbeiten gemeinsam daran, möglichst effiziente Ausgrabungen zu realisieren. Viele der Behauptungen Gurdjieffs haben sich als richtig erwiesen und lassen damit die Möglichkeit, dass er tatsächlich Zugang zu authentischem esoterischen Wissen hatte, erscheint deshalb in einem sehr viel wahrscheinlichen Licht. Andere seiner Thesen werden in Frage gestellt.
Gurdjieffs erwiesene Thesen
Eine Variante Gurdjieffs um Schüler in der westlichen Welt an sich zu binden, war die Behauptung über esoterisches Wissen zu verfügen, zu dem das wissenschaftliche Denken keinen Zugang hätte. Seine historischen, kosmologischen und psychologischen Darstellungen waren einzigartig. Einhundert Jahre später hat die allgemein anerkannte Lehrmeinung viel von seiner Herangehensweise an die menschliche Psyche – wie die Weisheit des Enneagramms, die eine Unterscheidung der natürlich bedingten Wesensanlagen ermöglicht – übernommen. Auch einige seiner historischen Thesen sind mittlerweile wissenschaftlich bewiesen.
Gurdjieffs Ägypten, bevor es zur Wüste wurde
Gurdjieff behauptete eine Karte des vorsintflutlichen Ägyptens gefunden zu haben, die seiner Meinung nach, die Existenz einer fortgeschrittenen Kultur im nördlichen Nil-Delta belegte – und zwar lange vor der Zeit des Alten Reichs. Er behauptete, dass es diese Kultur war, die die ältesten ägyptischen Baudenkmäler, wie die Große Sphinx und die Pyramiden von Gizeh, erschaffen hätten. Inzwischen gibt es zahlreiche Theorien, die auf ähnlichen Vorstellungen basieren, doch bislang haben Ägyptologen jeden Zeitrahmen, der über das Alte Reich hinausgeht, widerlegt.
Nichtsdestotrotz, ist die Tatsache, dass die Sahara nicht immer eine Wüste war, heute allgemein anerkannt. Insofern kann es ein Ägypten vor der Wüste, wie Gurdjieff es vermutete, durchaus gegeben haben, da bessere klimatische Bedingungen es einem Kulturvolk sehr wohl erlaubt hätten, sich über den ganzen nordafrikanischen Kontinent auszubreiten. Felszeichnungen inmitten der Sahara zeigen eine Fauna, die nur in einer fruchtbaren Umgebung gelebt haben kann.
Man nimmt an, dass diese Zivilisation gezwungen war, sich an die Ufer des Nils zurückzuziehen, als die klimatischen Bedingungen sich zu verschlechtern begannen. Dieser Zeitraum dürfte die Entstehungsphase des Antiken Ägypten beschreiben. Ob es sich hierbei um Gurdjieffs ‚Ägypten vor der Wüste‘ handelt bleibt fraglich, jedoch dürfen wir mit ziemlicher Sicherheit die Existenz einer Zivilisation annehmen, die weiter in die Geschichte zurückreicht, als wir heute vermuten.
Gurdjieffs zweiter Mond
In den Erzählungen Beelzebubs für seine Enkel behauptet Gurdjieff, dass der Mond der Erde – infolge einer kosmischen Kollision – aus der Erdmasse herausgeschlagen wurde. Er erwähnt einen zweiten Mond, der die Erde umkreist und den die Astronomen bislang nicht entdeckt hätten.
Die Astronomie hat mittlerweile einen, mit einem Durchmesser von etwa 5 Kilometern, winzigen Planetoiden [3753 Cruithne] entdeckt, der die Erde in einer denkbar ungünstigen Umlaufbahn umkreist, wenn man von einem orbitalen Resonanzverhältnis von 1:1 ausgeht. Dieser Planetoid (der nur vorgeblich ein Mond zu sein scheint, diese Aufgabe aber nicht erfüllt) umkreist die Sonne in 364 Tagen, was zur Folge hat, dass er sich mit jedem Jahr weiter von der Erde entfernt und seine Verbindung als Erd-Trabant mit der Zeit verlieren wird.
Obwohl erst 1968 offiziell entdeckt, ergeben Berechnungen, dass er um 1902 mit einem Teleskop der Stärke 12,5 hätte “gesichtet” werden können. Zur der Zeit wäre Gurdjieff etwa 36 Jahre alt gewesen und hätte möglicherweise von dessen Existenz hören können.
Er hätte die Idee des besagten, aus einem Zusammenstoß entstandenen Mondes, auch einem sumerischen Schöpfungsmythos namens Enunma Elisch entlehnt haben, der erzählt wie Marduk, ein riesiger Planet, erschien um Tiamat zu besuchen. Der Zusammenstoss der beiden erschuf Erde und Mond, wie wir sie kennen.
Gurdjieffs unbewiesene Thesen
Gurdjieffs Atlantis
Gurdjieff hat den Atlantis-Mythos Platons bestätigt: die Existenz einer ursprünglich sehr weit fortgeschrittenen Kultur, die sich, in Vorausicht geologischer Kataklysmen, ganz bewusst über den ganzen Erdball verbreitete; diese Emmissäre zivilisierten die uns heute bekannte Welt mit Kulturen, die lediglich Variationen eines Themas sind, wodurch sich auch die Ähnlichkeiten mancher, sehr weit voneinander entfernt lebender Völker erklären lässt.
All dies ist bis heute archäologisch unbewiesen. Und auch wenn man ein solches ‘Atlantis‘ schon an den unterschiedlichsten Orten vermutet hat, ist dessen Existenz bislang nicht nachgewiesen worden. Nichtsdestotrotz, erklärt eine solche Theorie sehr viel besser, was die Archäologie noch erklären muss: die offensichtlichen Ähnlichkeiten in den antiken Kulturen der Hindus, Sumerer und Ägypter. Gurdjieff unternahm seinen letzten Ausflug zu den Höhlen von Lascaux in Frankreich. Während der Untersuchung der prähistorischen Wandbilder, ließ er Bennet wissen, dass sie 10.000 Jahre alt und von den einstigen Bewohnern Atlantis geschaffen worden seien. Jedoch belegen Radio-Karbon-Datierungen die Entstehung der Bilder ungefähr im 17. Jahrtausend vor unserer Zeit; also in einem sehr viel frühen Zeitraum, als Gurdjieff vermutete. Zudem wurden mittlerweile weitere, noch ältere Höhlenkunstwerke entdeckt, die andeuten, dass seine Kenntnis der Vorgeschichte vielleicht ungenau war.
Gurdjieffs Einfluss
Gurdjieff scheint einen großen Teil seiner Geschichten ganz bewusst erfunden zu haben, um damit einerseits einem nur blinden Glauben entgegen zu wirken und andererseits seine Leser zu zwingen, die Lektüre jeweils ihrem Urteilsvermögen anheim zu stellen. In seinen Begegnungen mit bemerkenswerten Menschen ist es schwierig festzustellen, welche Begebenheiten biographisch sind, oder welche er nur erfunden hat. Ouspensky berichtet, dass Gurdjieff sich sehr oft selbst widersprochen hätte: während eines Vortrags behauptete er eine Sache und bei anderer Gelegenheit das genaue Gegenteil.
Nichtsdestotrotz sollte die Genauigkeit seiner historischen Behauptungen keinen Einfluss auf die Gültigkeit seines Systems haben. Eines ist offensichtlich: er brachte dem Westen und dem 20. Jahrhundert eine etablierte Formel aus vergangenen Zeiten. Er selbst war der lebende Beweis für die Effektivität dieses Systems, denn es hatte sein Dasein in etwas verwandelt, das in der westlichen Welt sehr selten ist. Es war klar, dass viele diese Seltenheit aufgriffen und ihr nachstrebten.