Der Vierte Weg

Der Vierte Weg ist ein Weg, der zu gehen ist – quasi ein Pfad. Als solcher kann er nur durch Erfahrung erlebt werden. Das „System“, wie es von Gurdjieff und Ouspensky dargelegt wurde, ist eine Formulierung des Vierten Wegs aus dem 20. Jahrhundert – jedoch ist es nicht der Weg selbst. Indem es das Wesen und die Eigenarten dieses Weges umreißt, ist es geeignet den Menschen, die nicht damit vertraut sind, eine Vorstellung davon zu geben. Es ist eine vage Annäherung an die Sache selbst. Tatsächlich waren beide, Gurdjieff und Ouspenksy, schließlich gezwungen das System, das sie so gründlich dargelegt hatten, aufzugeben, als sie feststellten, dass sich ihre Schüler in fantasievolle Debatten über das System verloren, anstatt den Weg selbst zu beschreiten. Das System begann den Weg zu blockieren.
Es wäre deshalb vergeblich, den zahlreichen Werken zu diesem System, die bereits existieren, eine noch systematischere Erklärung hinfügen zu wollen. Jedoch ist zum Vierten Weg nur wenig veröffentlicht worden, das sowohl die Herkunft und als auch den lebendigen Einfluss beleuchtet. Und doch ist es für jemanden, der diesen Weg beschreitet, von immensem Interesse, sich in zunehmendem Maße mit der Tradition, deren Teil er jetzt ist, vertraut zu machen –mit der Verbindung zu etwas Größerem und Höherem. Im Folgenden werden wir die Überlieferungen, als deren moderner Vertreter Gurdjieff zu sehen ist, etwas näher beleuchten.
„Man kann nicht sagen, dass dieses System der Vierte Weg ist; der Vierte Weg ist sehr vielfältig und dieses System, im Vergleich dazu, sehr begrenzt.“ (Aus „Der Vierte Weg, S. 106)

Gurdjieff und Hermeneutik?

Das Denksystem, wie es von Gurdjieff dargelegt wurde, ist nicht von Menschen erdacht worden. Freud begründete die Psychoanalyse durch eigene Beobachtungen und Darwin entwickelte die Evolutionstheorie durch eigene Studien. Ein System wie Gurdjieff es formulierte kann jedoch nicht von einem einzigem Menschen oder einer Gruppe von Menschen erdacht worden sein, weil dadurch die Zielsetzung insgesamt zunichte gemacht worden wäre. Denn das Ziel ist es, das Menschliche ins Übermenschliche zu transzendieren. Das menschliche Bewusstsein hat klar definierte Grenzen, die es nicht überschreiten kann. Daher muss jedes System, das den Anspruch erhebt, diese Grenzen überschreiten zu wollen, seinen Ursprung notwendigerweise in einem Bereich haben, der jenseits dieser Beschränkung liegt.
Dieser „Jenseits-Begriff“ sollte einem Neuling auf dem Vierten Weg kein Kopfzerbrechen bereiten. Er wird allerdings in dem Maße, in dem er auf dem Weg voranschreitet, an Bedeutung gewinnen. Gurdjieff nennt dies ein „höheres Bewusstsein“, eine Quelle „objektiven Verstehens“. Objektives Verstehen bedeutet die unvoreingenommene Kenntnis der einer universellen Schöpfung zugrunde liegenden Prinzipien. Insofern folgt der Vierte Weg dem Hermetischem Gesetz „Wie oben, so unten – wie innen, so auch außen.“ Eine Erkenntnis, die die grundlegenden Gesetze des Universums beschreibt, dabei aber auch den Mikro-Kosmos Mensch beleuchtet. Von niemandem erdacht gehört er niemandem und wird auch mit dem Tod eines einzelnen Menschen nicht enden.

Gurdjieffs antike Quellen

Dementsprechend stellte Gurdjieff sein System nicht als seine eigene Erfindung dar, sondern als antike Überlieferung. Und das war kein exotischer Flickenteppich, den er während seiner Reisen durch den Osten zusammenwebte, sondern sie hatte in vollständiger Form schon Tausende von Jahren existiert, bevor er darauf stieß. Seitdem war sie von Menschen, die gemäß dieser Prinzipien lebten, von einem Zeitalter ins nächste überliefert worden. Dies ist ein äußerst wichtiger Aspekt, den man beachten sollte, wenn man sich dem Vierten Weg nähert, da man in unserer Zeit allgemein geneigt ist, ihn allein mit dem Menschen zu assoziieren, der ihn im 20. Jahrhundert dargelegt hat. Gurdjieff hätte sehr wohl einen exklusiven Anspruch auf dieses Wissen erheben können, zu dem anscheinend nur er Zugang hatte,. Er tat dies nicht und zwar aus einem besonderen Grund. Der Vierte Weg muss seinen Ursprung von oben nehmen und nach unten verlaufen, anders könnte er seinem Anspruch an Objektivität nicht gerecht werden.

Wie oben so unten | Wie innen so außen

„Die Formel Wie oben so unten aus den Smaragdenen Tafeln des Hermes Trismegistos … [zieht] eine Analogie zwischen dem Mikrokosmos Mensch und dem Makrokosmos – dem Universum. Die fundamentalen Gesetze der drei Kräfte und der Oktave, die alles durchdringen, sollten gleichzeitig sowohl in der Welt als auch im Menschen untersucht werden.“ (aus „Auf der Suche nach Wunderbaren“, S. 287)
Wie oben so auch unten heißt implizit, dass es unmöglich ist den Menschen zu erforschen, ohne das Universum zu studieren, und dass es ebenso unmöglich ist, das Universum zu erforschen ohne den Menschen zu studieren. Oben und unten spiegeln einander, weshalb der Mensch gewisse Dinge über sich selbst nur in Erfahrung bringen kann, wenn er die äußere Welt beobachtet. Also ist der Vierte Weg organisch: Ein Ausdruck der grundlegenden Gesetze, die den Menschen, die Natur und das Universum bestimmen.
Um seinen eigenen Kosmos zu verstehen, ist es nicht notwendig, sich in eine allzu gründliche Erforschung der größer oder kleineren Kosmen zu vertiefen. Diesbezüglich hat Gurdjieff eine weitere Voraussetzung für den richtigen Gebrauch des Vierten Wegs postuliert: dass man nämlich vor allem sich selbst erforscht, und dass das Wissen um größere oder kleinere Kosmen nur in dem Maße nützlich ist, in dem dadurch die Selbsterkenntnis gefördert wird. Die moderne Wissenschaft übersieht dieses Prinzip, da ihr Fokus entweder auf der Erforschung kleinster Partikel oder des gesamten Universums liegt, verliert sie den Menschen aus den Augen. Die moderne Psychologie irrt im anderen Extrem: Indem sie den Menschen allzu sehr in den Vordergrund stellt, vernachlässigt sie seine Verbindung zu den größeren und kleineren Welten, die ihn umgeben.

Erkenne dich selbst

Das Motto „Erkenne dich selbst“ hat eine besonders tiefe Bedeutung und ist eines der Symbole, die zur Kenntnis der Wahrheit führen. Das Studium der Welt und das Studium des Menschen bereichern einander. In dem Maße, indem der Mensch die Gesetze dieser Welt ergründet, erforscht er sich selbst, und insoweit er sich selbst erforscht, ergründet er die Welt.“ (Aus „Auf der Suche nach Wunderbaren“, S. 287)
Der Ruf nach Selbsterkenntnis ist antiken Ursprungs. Üblicherweise Sokrates zugeschrieben stammt er tatsächlich aus den ältesten schriftlichen Überlieferungen. Selbsterkenntnis schmeichelt nicht, und der Mensch neigt dazu, eher alles andere als sich selbst zu erforschen. Aufgrund der oben genannten Hermetischen Gesetze ist es eben dieses Nicht-Wissen-Wollen, das Unwissenheit verursacht. Um überhaupt irgendetwas zu erkennen,
hat Gurdijeff anstelle des Begriffs der Selbsterkenntnis das Prinzip der Relativität vorgeschlagen, d.h. der Wert einer Erkenntnis hängt von einer entsprechenden Selbsterkenntnis ab. Der Mensch wird dadurch gezwungen, die äußeren Welten in Relation zu sich selbst zu bestimmen und kann somit jede Lehre, die nicht der Selbsterkenntnis dient, zurückweisen. Der Begriff Relativität schafft eine analoge Verbindung zwischen dem Erwerb von Wissen und einer damit verbundenen Anstrengung. (noch ein bisschen korrigiert; ich denke, so ist es okay)
Ein weiterer objektiver Aspekt des Vierten Weges war der Begriff Einheit und Vielfalt. „Erkenntnis bedeutet alles zu wissen“, sagte Gurdjieff und zitierte einen alten Aphorismus. „Nur einen Teil zu kennen, bedeutet nichts zu wissen. Um alles zu wissen, muss man nur wenig wissen. Doch um dieses Wenige zu erkennen, muss man sehr viel wissen.“ Es gilt also nicht, alles und jeden zu kennen, sondern diese Quintessenz, die alles und jeden ausmacht, zu erkennen.
Letztendlich ist der Vierte Weg ein pragmatischer Weg – ein Weg, den man gehen muss, – der allerdings demjenigen, der sich auf diesen Weg begibt, eine wirkliche Veränderung des Bewusstseins verspricht. Es geht nicht darum mehr zu lernen, sondern mehr zu sein. Um die Lücke zwischen Wissen und Weisheit zu schließen bedarf es der Übung, und regelmäßiges Üben erfordert Praxis in kurzen Intervallen – den Übergang von Worten zu Taten. Andauerndes Bewusstsein verlangt ein jederzeit abrufbares Bemühen, die eigenen Ziele, auch angesichts eines flüchtigen Verlangens oder eines vorgegebenen Axioms, nicht aus den Augen zu verlieren. Praktisches Arbeiten benutzt Worte lediglich um sie zu transzendieren.

Selbst-Erinnerung

„Keiner von euch hat die wichtigste Sache, auf die ich hingewiesen habe, bemerkt … keiner von euch hat bemerkt, dass ihr euch nicht an euch selbst erinnert.“ (Gurdjieff hat diese Worte besonders betont.) „Ihr empfindet euch nicht, ihr seid euch eures Selbst nicht bewusst. Bei euch beobachtet es, genauso wie es spricht und es lacht. Ihr habt kein Gefühl für: Ich beobachte, ich stelle fest, ich erkenne. Es wird alles nur festgestellt, es wird erkannt. … Um sich selbst wirklich betrachten zu können, ist Selbst-Erinnerung unabdingbar.“ (Aus „Auf der Suche nach dem Wunderbaren“, S. 124)
Selbst-Erinnerung ist die Brücke zwischen Wissen und Weisheit. Es ist eine Bemühung, sich seiner selbst in der Gegenwart bewusst zu sein, jede imaginäre Vorstellung, wie verlockend sie auch sein mag, von einem Moment auf den anderen zu verlassen, um in die Wirklichkeit zurückzukehren. Es bedeutet die Fähigkeit zu einer sofortigen, innerlichen Reorganisation: Das automatische Denken und Fühlen in den Hintergrund zu stellen, um das Höhere Selbst hervortreten zu lassen – sich seiner selbst zu erinnern.
In einem seiner frühen Gespräche mit russischen Schülern stellte Gurdjieff den Begriff Selbst-Erinnerung zur Debatte und forderte sie auf einander mitzuteilen, was sie während ihrer Selbst-Beobachtung empfunden hatten. Keinem war es gelungen, die wichtigste Tatsache zu erkennen: Niemand hatte sich seiner selbst erinnert. Ouspensky, der von diesem Gespräch berichtet, beginnt daraufhin mit Selbst-Erinnerung zu experimentieren und realisiert in der Folge dessen Schlüsselfunktion in der Arbeit am Bewusstsein.
Hier, wie schon zuvor, beruft Gurdjieff sich auf alte Praktiken und übersetzt diese in eine moderne Sprache. Die Upanishaden sind eine umfassende Abhandlung über das Selbst, und wie sehr es notwendig ist, sich daran zu erinnern und es an die vorderste Front zu stellen. Der Sufismus verwendet den Begriff der „Erinnerung an das Göttliche“ in ganz ähnlicher Weise wie Gurdjieff ihn später benutzte. Allerdings hat das Wort Gott im 20. Jahrhundert seine ursprüngliche Bedeutung verloren, da es zu sehr mit religiösen Strömungen in Verbindung gebracht wird, die den Menschen daran hindern, ein konkretes Verhältnis zu ihm zu entwickeln. Gurdjieff hat diese älteren Systeme in eine, dem modernen, westlich orientierten Menschen verständliche Sprache übertragen.
Der Unterschied zwischen dem System und dem Vierten Weg rührt daher:
Gurdjieffs Darstellung des „Systems“ für das 20. Jahrhundert hatte insofern Gültigkeit, als dass der Vierte Weg selbst die Summe aller vergangenen und gegenwärtigen Ausdrucksformen dieses Weges beinhaltet – das ganze Spektrum der Überlieferungen, die auf der Bühne der Menschheit bisher erschienen und wieder verschwunden sind.

Gurdjieffs Darstellung der Wege

Frühere Ausdrucksformen des Vierten Wegs hätten sich selbst nicht als vierten Weg bezeichnet. Gurdjieff nannte seine Darstellung den „Vierten Weg“, um dessen Bedeutung in der Quadriga der möglichen Formen der Bewusstseinserweckung hervorzuheben. Alle vier Wege führen zu demselben Ziel: Der Erweckung des Bewusstseins, der Wahrhaftigwerdung und Fähigkeit zu sein. Die spirituellen Pfade, die zu diesem einen Ziel führen, können sich jedoch – wie Straßen, die an den selben Bestimmungsort führen – in ihrer Art und Weise unterscheiden
Um unser Hauptaugenmerk nicht aus dem Blick zu verlieren, werden wir die drei anderen Wege  hier nicht näher erläutern; sie alle sind in Auf der Suche nach dem Wunderbaren eingehend beschrieben.  Was dort aber nicht ausdrücklich betont wird, ist, dass Gurdjieffs Unterscheidung der drei Archetypen des Wegs auf Grundlage der verschiedenen menschlichen Wesensarten nur in der Theorie Gültigkeit hat. Praktisch wird sich jeder dieser Wege als eine Mischung der drei Möglichkeiten erweisen, wobei lediglich der Schwerpunkt auf jeweils eine Variante gelegt wird. Insofern unterscheidet sich der Vierte Weg, da er danach strebt, die drei Wege harmonisch zu vereinigen und gleichzeitig in allen äußeren Erscheinungsformen des Menschen zu wirken
Wir sagen ‚streben’, denn genau das ist der Punkt. Normalerweise wird wohl jede Lehre anfangs als Vierter Weg erscheinen, doch im Laufe der Weiterentwicklung zeigt sich dann, dass sich der Schwerpunkt doch vorrangig auf einen bestimmten Aspekt verlagert. Sie wird zwangsläufig entweder einen gefühlsbetonten religiösen Charakter oder eine akademisch intellektuelle Färbung annehmen.  Dies scheint sowohl bei Gurdjieff als auch bei Ouspensky der Fall gewesen zu sein: Beide begannen an einem ganz ähnlichen Punkt, doch entwickelten sie im Laufe der Zeit bestimmte Fokussierungen, die jeweils ihrem natürlichen Wesen entsprachen. Für Gurdjieff war das räumliche Agilität und für Ouspensky die intellektuelle Auseinandersetzung.

Gurdjieff und die Stellung des Menschen im Universum

Ein grundlegender Aspekt des Vierten Wegs, der bei den meisten modernen spirituellen Übungen fehlt, besteht darin, dass die geistige Entwicklung des Menschen an eine Größenordnung gebunden werden muss, die eben größer als der Mensch ist. Er entwickelt sich nicht bloß zu seinem eigenen Nutzen. Im Grunde genommen ist der Mensch für spirituelle Entwicklung gänzlich ungeeignet. Er ist vielmehr dafür geschaffen, körperliche Funktionen zu erfüllen, wofuer er in seinem unterentwickelten Zustand auch durchaus imstande ist. Evolution ist die seltene Ausnahme, ein Schwimmen gegen den Strom, ein Entkommen aus der sonst gültigen Gesetzmäßigkeit.
Der Grund dafür, dass spirituelle Entwicklung überhaupt möglich ist, besteht darin, dass sie auch dem höheren Kosmos einen Nutzen bringt. Parallel zu der abwärts gerichteten Bewegung universellen Wachstums – der physikalisch endlosen Ausdehnung des Universums – existiert eine aufwärts, auf die Bewusstheit gerichtete Bewegung, für die eine kleine Zahl bewusster Individuen unverzichtbar ist. Das sind die breiten und schmalen Wege, die in den Evangelien erwähnt werden. Gurdjieff verglich die bewussten Individuen mit Eicheln auf einem Feld. Aus wie vielen der Abermillionen Eicheln, die die Natur hervorbringt, werden wirklich Bäume?
Deswegen ist der Vierte Weg exklusiv. Er ist für alle da, aber er schmeichelt niemandem. Es ist auch kein Weg, der halbherzig gegangen werden kann. Er ist eine letzte Zuflucht, ein Ausweg für diejenigen, die von allem anderen enttäuscht sind, die gesucht, aber nicht gefunden haben. Er ist ein Weg für desillusionierte Menschen, die zuviel wissen – die wissen, dass sie nichts zu verlieren haben.
„…was die wirklichen, zweifelsohne leicht verständlichen, echten objektiven Wahrheiten betrifft, die durch mich in der dritten Reihe ans Licht befördert werden, beabsichtige ich, sie nur denjenigen meiner Leser der zweiten Reihe meiner Schriften zugänglich zu machen, die, entsprechend meiner wohlüberlegten Anordnungen, von eigens dazu instruierten Menschen auserwählt werden.” (Aus Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel, Drittes Buch, S. 428)